Sunday Walk | Marion Ronca

Ausser Gebrauch gekommen ist die allgemeine Bedeutung eines “Narren”, einer Person also, die einen ungewöhnlichen Berufs ausübt und nicht etwa, wie man gemeinhin denken könnte, primär zur Aufgabe hat, die Menschen zum Lachen zu bringen, sondern ganz im Gegenteil zu bewirken, dass das Lachen ihnen im Hals stecken bleibt.
Der Narr, so scheint mir, ist ein Grenzgänger, dem nicht schwindelt, wenn er die lose Brücke zwischen Wahn und Wirklichkeit betritt, der die Absurdität der Welt und des Lebens schlechthin nicht nur kennt, sondern auch dazu benutzt, Situationen um zu polen.

Anlässlich eines Gesprächs, das Ruth Baettig und ich über ihre Arbeit im April 2005 führten, tauchte unweigerlich die Frage auf “Warum Kunst schaffen ?”. Die Frage hatte in diesem Kontext eine gewisse Selbstverständlichkeit. Wie alle “Warum-Fragen” ist sie jedoch existenzialistisch und gnadenlos durch die Erwartungen, die sie einleitet. Ruth Baettigs Antwort auf die Frage lautete wie folgt: “Ich weiss eigentlich nicht genau, warum ich das Medium Kunst gewählt habe, vielleicht deshalb weil es das komplexeste und das eigentümlichste ist. Mein Bedürfnis Eindrücke, Erfahrungen, Gedanken zu materialisieren, hat sich langsam, stetig und folgerichtig entwickelt. Kunst zu schaffen ermöglicht mir der Frage nach zugehen, was es bedeutet zu leben, jetzt zu leben und nicht irgendein Leben in einem riesigen Gesellschaftshaufen zu fristen.”

Ruth Baettigs denkwürdige “Figur ohne Eigenschaft”, die namenlos, alterlos und geschlechtlich neutral in ihren jüngsten Videoarbeiten auftritt, wirkt sowohl durch ihre Bewegungen als auch durch ihren weissen Forscheranzug deplaziert im Sinn von ortsfremd. In der Videoarbeit Sunday Walk taucht die Figur erst kriechenderweise im Wald auf. Bei den weiteren Einstellungen bekommen ihre Bewegungen zunehmend einen sportlichen Charakter, und erwecken durch die Bildbeschleunigung zusätzlich den Eindruck, der Weg würde von der Figur zwanghaft “absolviert”. Als sie den Wald verlässt und sich nunmehr in einer Berglandschaft befindet, bleibt ihre Handlungsabsicht weiterhin unklar. Inmitten von Steinruinen gibt sie Winkzeichen und hält schliesslich bei einem Abhang inne, um das Panorama zu betrachten. Auch wenn die Ambivalenz der Handlungsabsicht die Figur fremd erscheinen lässt, wirken mit der Zeit auch die Landschaft und die zufällig anwesenden Wanderer absurd. Als die Figur schliesslich an einer Gruppe junger Männer vorbei läuft, um sich auf eine nahe Holzbank zu legen und die Männer auf eine schon fast choreographisch Art und Weise anfangen, sich auf einem Felsen zu photographieren, lässt sich nur noch schwerlich sagen, wo die eigentliche Performance statt findet und wo “einfach” gehandelt wird.

Narrenpossen und zeitgenössiche Kunst haben mit Sicherheit eine gemeinsame Charakteristik. Sie vermögen beim Betrachter kurzfristig ein Gefühl auszulösen, das befremdet. Er wird in einen tranceartigen Zustand versetzt, wo er zwischen Absurditätsgefühl und Ärger hin und her gerissen und erst durch ein Aha-Erlebnis oder ein Was-soll-das?-Ausruf befreit wird.

Einige Bewohner von Reiden werden sich wohl befremdet gefühlt haben, als sie ihr Radio, den sie Ruth Baettig für eine Ausstellung ausgeliehen hatten, inmitten von dutzend anderer Radios wieder gefunden haben, schlicht und ergreifend auf einem Sockel stehend und die selbe Melodie summend wie die restlichen Funkempfänger. Der Installation Transistor, die Ruth Baettig 1998 in Reiden ausstellte, ging ein künstlerisch-demographisches Experiment voraus, für welches die Künstlerin insgesamt 60 Haushalte aufsuchte und die Leute bat, ihren Radio auszuleihen. Als sie die geborgten Geräte anschaltete, stellte sich heraus, dass alle denselben Sender empfingen. Ruth Baettig hatte dieses Resultat nicht erwartet, sondern eher damit gerechnet, dass dank der unterschiedlichen “Sendergeschmäcker” eine erfrischende Kakophonie entstehen würde. Da aber alle Apparate das gleiche wiedergaben, entstand ein fast schon bedrohliches Bild einer lokalen Gleichschaltung, das die eigentlich vertrauten Geräte auf einmal fremd und verräterisch erscheinen liess.

Es ist eine alte Tradition, dass Künstler gerne bei Feierlichkeiten eingesetzt werden. Man wünscht sich etwas Besonderes, das über die herkömmliche Einweihungsrede und den üppigen Blumenschmuck hinausgeht, möchte jedoch auch, dass die Intervention im Sinne der Veranstaltung bleibt, ihre gute Absicht unterstreicht und den vorgesehenen Konsens stärkt.

Als die Altdorfer Politiker bei Richard Kissling vor rund 110 Jahren eine Tellskulptur bestellten, schrieben sie ihm vor, Tell als freiheitsstolzen, kühnen, entschlossenen Mann in der landesüblichen Bauerntracht darzustellen.

Das Denkmal des Helden, der mit geschulterter Armbrust beschützend den Arm um die Schulter seines Sohnes legt, sollte auch dazu dienen, in einer Zeit der allgemeinen Orientierungslosigkeit, die bedingt war durch den aufkeimenden Nationalbewusstsein in Europa, ein identitätstiftendes Zeichen zu setzen.
Hundert Jahre später wiederholte sich das Ganze gewissermassen noch einmal, als die Altdorfer Politiker einige Künstler für das 100-jährige Jubiläum der Tell-Skulptur anfragten. Im Rahmen der Ausstellung “Memento” wurde auch Ruth Baettig eingeladen, einen künstlerischen Beitrag zu diesem besonderen Anlass zu leisten. Die einzige Auflage nebst den oben genannten impliziten Wünschen war wohl, dass die Arbeit einen direkten Bezug zum befeierten Denkmal hat. Ruth Baettig beschloss das Denkmal mit der prozentual grössten ?Bevölkerungsgruppe” im Kanton Uri in Zusammenhang zu bringen: Den Kühen. Mit Wesen also, die ganz im Gegensatz zu Denkmälern, den Epochenwechseln unbekümmert, ja nahezu gleichgültig standhalten.

Leider begeistern sich Kühe nicht von sich aus für Denkmäler, es sei denn man macht sie ihnen schmackhaft. Um also das Interesse der Kühe für die Tellskulptur zu wecken, fertigte Ruth Baettig an einer dem Kuhrevier angrenzenden Glaswand kleine Tellsilhouetten aus Tierfutter an. Und schon trafen die Kühe ein und leckten eifrig die kleinen Tellsilhouetten weg.

Die Videoarbeit Mémoires Rustiques, die das Kuhlecken auf einem mit Kuhnamen besetzten, tapetenähnlichen Hintergrund präsentiert, wirkt ausgelassen und frech. Hinter der Aktion der Künstlerin verbirgt sich aber eine ernste Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Nationalhelden. Wilhelm Tell stand, wie sein Denkmal suggeriert, lange Zeit für Unabhängigkeit und Widerstandskraft. Diese Bedeutung verlor sich mit der Zeit, Tell steht heute vielmehr für Qualität und Tradition. Auch Kühe gehören zu den beliebten Klischees der Schweiz und auch sie haben mit der Zeit eine andere Bedeutung bekommen, da man sie nicht mehr zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren zählen kann. Ruth Baettigs Arbeit Mémoires Rustiques veranschaulicht diesen Bedeutungswandel und setzt der weltberühmten “Imagerie” der Schweiz ein Denkmal kompromisslos: intelligent und humorvoll.

Marion Ronca, Genf, 2005